Deutschland hatte Kolonien? – Diese erstaunte Frage wird nicht selten sogar in universitären Geschichtsseminaren gestellt. Trotz einiger öffentlicher Debatten – beispielsweise über die im Jahr 2013 begonnene Rückgabe zahlreicher während der deutschen Kolonialherrschaft (1884-1914) entwendeter Schädel aus Namibia durch die Berliner Charité oder die Frage nach Reparationszahlungen seitens der BRD an die Nachfahren der im genozidalen Kolonialkrieg (1904-1908) zu Tausenden ermordeten Herero und Nama – ist das Thema "Kolonialismus" noch immer nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Vereinzelt wird das postkoloniale Gedächtnis durch die Feuilletons der einschlägigen Tagespresse wach gerüttelt oder die deutsche Kolonialherrschaft durch populärwissenschaftliche TV-Sendungen wie "Das Weltreich der Deutschen" von Guido Knopp massentauglich gemacht, aber von einer umfassenden Diskussion über die Fortwirkung kolonialer Diskurse und Praktiken bis heute kann keine Rede sein. Dennoch prägt Kolonialrassismus die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland und ist eng mit heutigen Formen von Rassismus verbunden.
Wen und warum interessieren die gegenwärtigen Spuren der deutschen Kolonialgeschichte?
Seit einigen Jahren widmen sich nicht nur Wissenschaftler*innen, (im deutschsprachigen Raum seit der Ausbreitung der Postcolonial Studies ab 1990) sondern auch zahlreiche Initiativen und Vereine dem weißen Fleck namens deutscher Kolonialismus auf der Landkarte des allgemeinen Erinnerns. Spätestens seit der Ankündigung des Deutschen Historischen Museums in Berlin (DHM), Oktober 2016 bis April 2017 eine Ausstellung "Deutsche Kolonialgeschichte" zu zeigen, scheint das schwierige Erbe dieser Zeit von etablierten Institutionen der offiziellen Erinnerungskultur und Wissensvermittlung nicht mehr ausgeblendet zu werden. Dazu beigetragen hat ein Projekt junger Historiker*innen, die alternative Museumsrundgänge mit Hilfe eines frei verfügbaren Audio-Guides anbieten. Ihr Ziel, deutsche Kolonialgeschichte auch im DHM hör- und sichtbar zu machen, scheint vollbracht. Ob sich das wirklich bewahrheitet, wird letztlich die Vorgehensweise und inhaltliche Ausgestaltung der Ausstellung zeigen.
"Berlin, Freiburg, Hamburg, Leipzig, München… Postkolonial" nennen sich diverse lokal organisierte Vereine und Initiativen, die u. a. die Stadtgeschichte(n) in den deutschen Metropolen unter die koloniale Lupe nehmen. Der Beginn der "Gründungswelle" der heute in fast jeder größeren Stadt der BRD zu findenden Initiativen lässt sich schwer datieren. Ihre ersten Erfolge sind die Verankerung und Verherrlichung der deutschen Kolonialherrschaft in der städtischen Erinnerungspolitik ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zu bringen. So wurde beispielsweise durch das Engagement der Berliner Postkolonialen das ehemalige Kreuzberger Gröbenufer in May-Ayim-Ufer umbenannt. Aber jüngste Ereignisse um die umstrittene U-Bahn-Ansage, ausgerechnet durch den Komiker Dieter Hallervorden, der bereits 2012 wegen "Blackfacing" in einer seiner Theaterinszenierungen scharf kritisiert wurde, zeugen vom vorherrschenden Unverständnis und der Blindheit der Öffentlichkeit gegenüber diskriminierenden Fremdbezeichnungen.
Deshalb lautet der Schwerpunkt der ZAG 70: War da was? Postkoloniale Spurenlese. Unser Hauptanliegen ist es, an die Kolonialgeschichte zu erinnern und die vielfältigen Formen der postkolonialen Bildungs- und Antirassismusarbeit vorzustellen. Die offizielle Erinnerungskultur marginalisiert den Kolonialismus und sein Fortwirken bis heute.
Deshalb wünschen wir uns von euch unter anderem Artikel zu folgenden Fragen:
** Was war, was ist Kolonialismus?
** Warum ist eine Erforschung und Aufarbeitung der deutschen
Kolonialgeschichte und ihrer Wirkung bis in die Gegenwart von Bedeutung?
** Was bedeuten "Postkolonialismus", "Postcolonial Studies" und eine
(post)koloniale Erinnerungskultur? Was sind die theoretischen und
praktischen Grundlagen?
** Welche politischen Bewegungen hatten Einfluss auf die Entstehung
einer postkolonialen Kritik? Inwieweit waren Betroffene aus den
kolonialisierten Gesellschaften an der Entwicklung beteiligt?
** Welche Themen, Projekte und/oder Aktionen werden genutzt, um die
kolonialen Spuren hör-, spür- und sichtbar zu machen? Wer sind die
Adressaten dieser lokal agierenden postkolonialen Kritik?
** Welche Strategien und Projekte der Zusammenarbeit mit
stadtpolitischen Akteur*innen wurden entwickelt? Wie begegnen Städte
den jeweiligen Initiativen?
** Ist eine postkoloniale Arbeit durch überwiegend weiße Gruppen
sinnvoll/vertretbar?
** Wie kann der anonyme Opferstatus der Kolonisierten überwunden werden?
** Wird die Mehrdimensionalität von Diskriminierungen in der
postkolonialen Bildungsarbeit zur Kenntnis genommen? Wird zum Beispiel
die eigene akademische Position ausreichend reflektiert?
** Inwiefern kann die postkoloniale Arbeit für die antirassistische
Bewegung nutzbar gemacht werden bzw. wieweit befruchten sich die
Ansätze derzeit gegenseitig?
Wir bitten um die Zusendung von Artikeln und Artikelvorschlägen zu dem von uns angerissenen Thema und unseren im obigen Text aufgeworfenen Fragen.
** Artikel für den Schwerpunkt der ZAG sollten nicht mehr als 12.000
Zeichen (inkl. Leerzeichen) umfassen.
** Hinweise zur Textgestaltung senden wir auf Wunsch gerne zu.
** Geschlechtergerechte Sprache ist erwünscht.
** Der Redaktionsschluss ist der 18. Oktober 2015. Wir freuen uns aber auch
über früher eingereichte Beiträge.
** Infos, Nachfragen, Artikelvorschläge sowie Lob und Kritik an
redaktion@zag-berlin.de.
** Mehr Infos über die ZAG unter
http://www.zag-berlin.de.
** Wir freuen uns auch über Texte für alle anderen Rubriken des Heftes,
die dann jedoch nur max. 8.000 Zeichen haben sollten.
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