Über den unermüdlichen Abschiebewillen
des Staates
Kreis Pinneberg besonders kreativ
(2007)
Lange Zeit wurde die Prüfung der Reisetauglichkeit bei traumatisierten
Flüchtlingen im Kreis Pinneberg, wie in anderen Landkreisen auch,
durch einen Amtsarzt des Sozialpsychiatrischen Dienstes vorgenommen. Dies
änderte sich im Mai 2006, als die Ausländerbehörde dem Diakonieverein
Migration e.V.mitteilte, daß fortan nicht der Amtsarzt, sondern eine
per Vertrag verpflichtete Ärztin diese Aufgabe übernehmen werde.
Die neue Regelung war mit dem Innenministerium abgestimmt. Auf Hinweise,
daß bei psychischen Erkrankungen eine psychologische Begutachtung
erforderlich sei, entgegnete die Behörde, daß sie selbstverständlich
eine derartige Begutachtung veranlassen werde, wenn die Ärztin dies
empfehle.
Was war passiert?
Der Amtsarzt hatte bei den vom Diakonieverein Migration e.V. betreuten
Flüchtlingen aufgrund von psychischen Erkrankungen und bei Abschiebung
in den Herkunftsstaat drohenden erheblichen Verschlimmerungen des Gesundheitszustands
Reiseunfähigkeit festgestellt. Die Formulare der Ausländerbehörde,
die Flugtauglichkeit bescheinigen sollten, hatte er nicht ausgefüllt.
In einem Vermerk vom 23.12.2004 stellte die Ausländerbehörde
dann fest, daß so eine "effektive Rückführung von ausländischen
Staatsangehörigen nicht möglich" sei und nun davon auszugehen
sei, "dass vielen Personen dadurch ein Aufenthaltsrecht zugesprochen werden
muss." Die Behörde forderte den Amtsarzt auf, die Formularbescheinigungen
bzgl. der Flugtauglichkeit der PatientInnen auszufüllen. In einem
Präzedenzfall füllte daraufhin der Amtsarzt das Formular aus,
verwies aber zugleich auf seine gutachterliche Stellungnahme, in der er
bei einer Abschiebung eine deutliche Verschlechterung der Krankheitssymptomatik
prognostizierte.
Die "effektive" Vertragspraxis
Seit April 2006 werden also traumatisierte Flüchtlinge nur noch
von der Vertragsärztin (Allgemeinmedizin, Sportmedizin, Tropenmedizin
und Rettungsmedizin) auf Flugreisetauglichkeit untersucht –auch diejenigen
Menschen, bei denen der Amtsarzt zuvor Reiseunfähigkeit attestiert
hatte. Bei keiner der vom Diakonieverein betreuten sehr kranken Personen
wurde von der Vertragsärztin eine psychologische Begutachtung vorgeschlagen.
In allen bekannten Fällen stellte sie mit einem Standardschriftsatz
mit nur geringfügigen individuellen Abweichungen "Flugreisefähigkeit
ab sofort fest." Welche Untersuchungen sie mit welchem Ergebnis durchführte
und weshalb sie die in den fachärztlichen Stellungnahmen begründeten
Bedenken für irrelevant hielt, ist aus ihren Bescheinigungen nicht
zu ersehen. Bei insgesamt über 50 Beurteilungen von traumatisierten
Flüchtlingen hat die Vertragsärztin in einem Fall (!) eine "ärztliche
Begleitung" bei der Abschiebung vorgeschlagen. Die Kosten dieser Untersuchungen
wurden den Flüchtlingen in Rechnung gestellt. Als Bestandteil einiger
Rechnungen machte die Ärztin u.a. "eingehende Beratung" geltend, die
tatsächlich nicht stattgefunden hatte.
Daß bei einer Patientin die Ärztin ihre Bescheinigung auf
Flugreisetauglichkeit ohne tatsächliche Untersuchung allein "auf der
Grundlage vorliegender ärztlicher Stellungnahmen und des persönlichen
Eindrucks" ausgestellt hatte, hält das Innenministerium für nicht
zu beanstanden. Schließlich habe die Betreffende "nach einer anderen
Sichtweise" (d.h. nach Meinung der Ausländerbehörde) die ärztliche
Untersuchung selbst verweigert. Mit diesen "Freibriefen" der Vertragsärztin
kündigte jetzt die Ausländerbehörde den Flüchtlingen
die Abschiebung an. Als Folge kam es zu den zuvor prognostizierten schweren
gesundheitlichen Verschlimmerungen mit Notarzteinsatz in der Beratungsstelle,
zwei Suizidversuchen und fünf mehrwöchigen stationären psychiatrischen
Behandlungen.
Die Strafanzeige
Nachdem auch Gespräche der vereinsvorsitzenden PröbstInnen
mit dem Landrat des Kreises Pinneberg an dieser für die Betroffenen
gefährlichen Behörden-Einvernehmlichkeit nichts ändern konnten,
stellte der Diakonieverein Migration e.V. im Mai 2007 Strafanzeige gegen
die Vertragsärztin der Ausländerbehörde wegen des Verdachts
des Ausstellens von Gefälligkeitsgutachten zugunsten des Kreises und
falschen Gesundheitszeugnissen. Als Reaktion auf die Strafanzeige sprach
der Landrat von "böswilligen Unterstellungen, die jeglicher Grundlage
entbehrten", "Ahnungslosigkeit", "politischer Agitation" und "Wahrnehmungsstörungen"
des Diakonievereins, der "vom Kreis Gesetzesbruch erwarte" und den "Kreis
und seine Mitarbeiter verunglimpfe". Der Kreis prüfe, eine Strafanzeige
gegen den Diakonieverein zu stellen.
Das von der Staatsanwaltschaft eingeleitete strafrechtliche Ermittlungsverfahren
gegen die Vertragsärztin u.a. wegen des Verdachts auf Körperverletzung
wurde Mitte Dezember 2007 eingestellt. Begründung unter anderem:
Der "Untersuchungsauftrag" der Ausländerbehörde "erstreckte
sich ausschließlich darauf, die Flugreisefähigkeit der ausreisepflichtigen
Ausländer zu begutachten. Dazu war die Beschuldigte (die Vertragsärztin,
ARI), die u.a. Reisemedizinerin ist, hinreichend qualifiziert." Daß
die Vertragsärztin in einem Fall "die Begleitung durch einen Arzt
für erforderlich gehalten hat," spricht nach Ansicht der Staatsanwaltschaft
dafür, daß sie "nicht einfach undifferenziert und lediglich
im Interesse der auftraggebenden Ausländerbehörde gehandelt hat."
Die falschen Abrechnungen der Ärztin werden als nicht "vorsätzlich"
gewertet.
Quelle: Diakonieverein Migration
e.V. in Pinneberg
(siehe hierzu dokumentierte Fälle vom 15. August
06, 19. August 06 und 19. September 06)