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Übersetzung: Ulrike Vasel

In: Russkij Berlin, Nr. 200/16 2000, 24. - 30. April

Reportage aus dem Gefängnis

Der Hunger und die Frauen
 
 

Seit schon fast zwei Monaten besteht die tägliche Ration von Soja Schatz (37), Ljudmila Orlova (22) und bis vor wenigen Tagen auch von Dana Wlasenko (24) und Natalja Bazarja (33) nur aus zwei Plastikbechern Mineralwassers. Manchmal mit einem Tropfen Zitronensaft. Injektionen, die die Ärzte des Berliner Gefängnisses in der Kruppstraße ihnen beharrlich verabreichen wollen, lehnen die Frauen ab. Weil dies, so meinen sie, den Hungerstreik nur künstlich verlängern würde.
 
 

Soja: Ich begann den Hungerstreik am 19. Februar. Ich hatte gehört, dass zum Beispiel im Gefängnis in Köpenick die Männer oft hungern, und dass sie nach höchstens 25 Tagen entlassen werden. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass ich so lange durchhalten kann. Jetzt ist mir schon alles egal. Am Anfang haben die Aufseher gelacht und gesagt, dass es Frauen nicht schaden kann, ein paar überflüssige Kilos zu verlieren. Heute lacht niemand mehr.

Soja lebt schon sieben Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Sie war verheiratet, hat gearbeitet. In Norddeutschland lebt ihr 17-jähriger Sohn unter der Obhut einer wohltätigen Organisation. Mit der Ukraine, so bekennt Soja, verbindet sie gar nichts mehr. Sie hat noch nicht mal eine Adresse. Ljudmila, Dana und Natalja sind noch nicht so lange in Deutschland - zwei bis drei Jahre. Die Geschichten sind unterschiedlich. Bei der einen ist das Visum abgelaufen, die andere kam her, um etwas Geld zu verdienen... Hunderte Menschen aus den Ländern Osteuropas kommen hierher, um in Deutschland ihr Glück zu versuchen und finden sich im Gefängnis wieder.

Ihr Verbrechen gegen den deutschen Staat ist ihre Illegalität. Doch alle lebenden Menschen sind legal. So meint man in der "Antirassistischen Initiative" (ARI), einer Berliner Organisation, die für die Abschaffung der Abschiebehaft eintritt. Seit dem dritten März sind die MitarbeiterInnen der ARI in ständigem Kontakt zu den Ukrainerinnen. Es gelang der ARI nicht nur, die Aufmerksam-keit der Öffentlichkeit auf diesen beispiellosen Fall zu lenken, sondern auch Anwälte zu finden, die bereit sind, für die hungernden Frauen zu arbeiten.

"Indem der Staat Illegale monatelang einsperrt, kriminalisiert er sie eben dadurch", sagt Ute Kurzbein von der "Antirassistischen Initiative", "denn das Einzige, dessen diese Frauen beschuldigt werden, ist das Fehlen eines Passes mit Visum."

Für die hauptstädtische Regierung ist die Situation nach den Worten des Pressesprechers des Berliner Innensenats Stefan Paris dagegen eindeutig: "Diese Frauen befinden sich zur Zeit in Haft, weil sie sich auf dem Territorium Deutschlands illegal aufhielten und hier ohne gültige Arbeitserlaubnis Geld verdienten. Zum Zeitpunkt der Festnahme hatten sie keine zur Legitimation geeigneten Dokumente bei sich. Außerdem bestand der Verdacht, dass sie versuchen würden, sich der Ausweisung aus dem Land zu entziehen. Und da die ukrainische Seite die Frauen zur Zeit nicht mit den notwendigen Papieren versorgen kann, verzögert sich auch der Zeitpunkt der Abschiebung."

Da ist es doch erstaunlich, dass der Pressesprecher der ukrainischen Botschaft mir per Fax vom 6.4.2000 versicherte, dass sich weder Berliner Behörden noch die hungernden Ukrainerinnen selbst um Hilfe oder um Papiere an die Botschaft gewandt haben. Nach den Worten Stefan Paris` vom Berliner Innensenat jedoch gibt es mit der ukrainischen Seite eine intensive Zusammenarbeit zur Aufklärung der Personalien der Inhaftierten. Was ist die Wahrheit?

Die Gefängnisleitung und der Innensenat zweifeln übrigens daran, dass die Ukrainerinnen schon seit sechs Wochen im Hungerstreik sind. "Die Inhaftierten weigern sich, die offiziellen täglichen Essensrationen zu sich zu nehmen. Doch daneben gibt es im Gefängnis die Möglichkeit, etwas Essbares in Automaten zu kaufen, oder die Inhaftierten teilen sich untereinander das, was sie haben", so bemerkte Stefan Paris im Gespräch.

Soja hat bereits mehrmals das Bewusstsein verloren. Einmal lag sie ungefähr eine halbe Stunde auf dem Fußboden und war nicht in der Lage aufzustehen. Die Gefängnis-Sanitäter bemerkten zu dieser Sache lediglich, dass die Ohnmachtsanfälle aufhörten, wenn sie wieder esse.

Alle vier Ukrainerinnen wissen sehr gut, welchen Schaden sie ihrer Gesundheit zufügen werden, wenn sie den Hungerstreik weiter führen. Doch sie sahen keine andere Möglichkeit, ihre Freilassung aus dem Gefängnis und die Aussetzung der ihnen drohenden Abschiebung aus Deutschland zu erreichen.

Seit einigen Tagen gehen beim Innensenator Ekkehard Werthebach Briefe und Faxe von deutschen Verteidigern der Menschenrechte, unter ihnen die Schriftstellerin Christa Wolf, die Publizisten Walter Jens und Rolf Giordano, sowie von vielen politischen Gruppierungen und Aktivisten ein, in denen sie die deutschen Behörden zu Humanität aufrufen.

Am 10. April wurden Soja und Dana in das Haftkrankenhaus überführt. Doch auch dort verweigerten die hungernden Ukrainerinnen Medikamente und Injektionen...

Ende letzter Woche gelang es den Anwälten endlich, die Freilassung von Natalja und Dana zu erreichen, deren Zustand die Ärzte endlich doch noch als zu instabil für einen Gefängnisaufenthalt ansahen. Was Natalja angeht, so hat das Amtsgericht Schöneberg anerkannt, dass man in ihrer Sache von nachlässiger Arbeit der Ausländerbehörde ausgehen muss. Nach den Angaben von Nataljas Anwältin hätte man ihre Klientin bereits vor einigen Monaten entlassen müssen, da es klare Beweise für ihre Versuche gibt, in den Besitz der erforderlichen Papiere zu gelangen.

Ljudmila bekam vor kurzem Besuch von einer Psychologin des Deutschen Roten Kreuzes. Die von ihr erstellte Diagnose ist eindeutig - der Gesundheitszustand der gefangenen Ljudmila lässt um das Leben der jungen Ukrainerin fürchten. Am 15. April begann Ljudmila, Säfte zu trinken und sie versuchte, Nahrung zu sich zu nehmen. Doch jeder Versuch endete mit Erbrechen. Der von dem mehrwöchigen Hungerstreik geschwächte Organismus ist einfach nicht in der Lage, ohne medizinische Unterstützung zu funktionieren. Doch nach Meinung der Gefängnisärzte ist Ljudmila haftfähig und gibt es keinen Grund, sie in ein Krankenhaus zu bringen.

Die siebenunddreißigjährige Soja hält einstweilen noch durch - eine Frau mit einer Willenskraft wirklich biblischen Ausmaßes. Sie hatte als Erste mit dem Hungerstreik begonnen. Und sie hat nicht die Absicht, ihn zu beenden, ehe sie die Freiheit erlangt. Doch der Zynismus der Behörden kennt scheinbar keine Grenzen. Ende letzter Woche sollte Soja mit ihrer Unterschrift ihr Einverständnis mit Lebensrettungsmaßnahmen durch die Gefängnisärzte erklären, falls sie für längere Zeit das Bewusstsein verliert und ins Koma fällt. Doch die Tatsache, dass Soja schon lange unter vom langen Hungerstreik hervorgerufenen Kreislaufstörungen leidet, stört die Ärzte nicht. Nach deren Worten wird die Abschiebung in die Ukraine die Patientin aufmuntern und so ihrer Gesundheit von Nutzen sein!

Die Inhaftierung von Personen, die abgeschoben werden sollen, wird von den deutschen Behörden in tausenden Fällen angeordnet. Normalerweise ist ein Hungerstreik die einzige Möglichkeit, gegen die Haft zu protestieren. Bisher endeten solche Aktionen oft mit der Freilassung der Menschen. Im Fall der ukrainischen Frauen jedoch haben die verantwortlichen Personen offensichtlich beschlossen, Härte zu demonstrieren. Doch wie lange wird der geschwächte Organismus Sojas diese tragische Gegenwehr noch aushalten?

Diese Geschichte spielt zu Beginn des dritten Jahrtausends. Sie spielt in einem führenden europäischen Land, das stolz auf seinen Humanismus und die Einhaltung der Menschenrechte ist.

Artikel eins der deutschen Verfassung garantiert das Recht des Menschen auf die Achtung seiner Menschenwürde. Doch in der Praxis sieht das so aus, dass in der Logik der deutschen Gesetzesgeber unter dem Wort "Mensch" zu verstehen ist: "Papiere". Und wenn er keine Papiere hat, dann ist es auch kein Mensch. Und Rechte hat er dann auch nicht.

Vera Block