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Das Leben - nur noch matter Begriff

Vier Ukrainerinnen im Hungerstreik bringen die Politik in Erklärungsnotstand

Von Ullrich Fichtner (Berlin)

Nein, sagt Natalja Bazarja, der Teufel ist ihr noch nicht begegnet. Schüchtern, tonlos lacht sie hinter der verschmierten Glasscheibe über diese Frage. Sie ist nicht Jesus, wirklich nicht, der in die Wüste ging und vierzig Tage lang nicht aß. Nur eine kleine Ukrainerin ist sie, die an Jesus glaubt und an Gottes Güte. Die es auf den Schleichwegen der weltweiten Wanderung nach Berlin verschlagen hat am Ende. Die im ersten Stock eines Backsteinbaus in Moabit, Kruppstraße 15, in Abschiebehaft sitzt, hinter Spiralen aus Nato-Stacheldraht, dreieinhalb Monate schon. Und die, sie ist erschütternd blass, seit 44 Tagen nichts mehr gegessen hat.

Kopfschmerzen hat sie, sie spürt ihre Leber, die Augen tun weh und manchmal fährt ihr der Nährstoffmangel in die Beine. Am Anfang, als sie noch Apfelsaft trank, verkrampfte sich der Magen oft und das Durchhalten fiel ihr sehr schwer. Jetzt, nach 44 Tagen, da sie seit langen Wochen nur noch Wasser trinkt, geht es ihr besser, sagt sie. "Normal". Normal? "Normal". Den Tag über muss sie liegen, weil sie zum Sitzen zu schwach ist, sie schläft viel, liest, ihr Blutdruck pendelt um die 100 zu 70. Das ist nicht viel. Und wenn die anderen Frauen in ihrer Zelle essen, wenn Natalja Bazarja den Geruch und überhaupt dieses Leben nicht mehr ertragen kann, müht sie sich hoch, geht auf den Flur und raucht. Marlboro 100, ungefähr zwölf Stück am Tag. Heute, am Samstag, hat sie Geburtstag, 33 wird sie am 45. Tag ihrer großen, entschlossenen Verweigerung. Eine Feier wird es nicht geben.

Warum macht sie, was man "Hungerstreik" nennt? Warum verweigern Natalja Bazarja, Soja Schatz, Dana Wlasenko und Lyudmila Orlova in diesem Moabiter Gefängnis seit 44, seit 47 Tagen jedwede Aufnahme von Nahrung? Warum unterziehen sich die vier Frauen der Qual des Mangels, der täglichen Untersuchung durch einen polizeilichen Amtsarzt, der Blutabnahme alle zwei Tage im Krankenhaus Moabit? Warum klammern sie sich an ein Land, dessen Behörden sie mit allen Mitteln los werden wollen? Ein Land, dessen Vorschriften ihren Traum von einem besseren Leben nicht vorsehen?

"Mir bleibt nichts übrig." Jetzt sitzt Soja Schatz an diesem trüben Freitagmorgen hinter der quadratischen Glasscheibe im zweigeteilten Stockwerk des Backsteingebäudes an der Kruppstraße, "Besucherbereich". Die Dolmetscherin legt die Hand auf das Fenster zur Begrüßung, die Hände beider Frauen malen frische Schlieren zwischen die Fingerabdrücke und Spuren, die vorherige Besucher in der Koje Nummer drei hinterlassen haben als Zeichen unerfüllbarer Nähe. Soja Schatz sagt, sie könne nicht in die Ukraine zurück. Ihre Eltern sind tot, Verwandte und Freunde hat sie dort nicht mehr. Sie sagt, dass sie in Deutschland bleiben wolle, müsse, wo ihr Sohn aufwuchs und wo sie seit 1992 lebt und leben will. Sie sagt: "Ich habe nichts zu verlieren." Aber das Leben? Wird zum matten Begriff nach sechs Monaten in Abschiebehaft. Zur Chimäre, wenn es Aussicht auf eine selbstbestimmte Zukunft nicht gibt.

Vorschriften und Gesetze stehen ihr entgegen. "Diese Damen", sagt Stefan Paris, Sprecher des Berliner Innensenators Eckart Werthebach (CDU), "diese Damen" seien "illegal ins Bundesgebiet eingereist", sie seien "illegaler Beschäftigung, auch der Prostitution" nachgegangen und sie verschleierten vorsätzlich ihre Identität und verhinderten damit eine zügige Abschiebung. "Wir vollziehen nur geltende Gesetze", sagt Paris, und deshalb stünden die Frauen vor genau einer Alternative: Abschiebung oder Abschiebehaft. "Einen dritten Weg gibt es nicht", es solle sich niemand etwas vormachen. Und der Staat, sagt Paris, könne und werde sich nicht erpressen lassen von einem "sogenannten Hungerstreik".

"Sogenannt", das sagt Paris, weil sich die Berliner Innenverwaltung folgende Version gebastelt hat: Die Frauen verweigerten wohl die offizielle Anstaltsnahrung, verzehrten aber Lebensmittel, die ihnen mitgebracht würden (was allerdings, nach den geltenden Vorschriften, die im Abschiebegefängnis überall aushängen, verboten ist). Man habe Apfelschalen im Mülleimer gefunden und andere Reste. Auch ihr gesundheitlicher Zustand lasse auf heimliches Essen schließen. Eine These, die der bloße Augenschein widerlegt, aber das sagt nicht viel. Eine These allerdings, die nach Skandal riecht, weil die Ukrainerinnen erzählen, dass das Wachpersonal selbst Speisereste in den Müll wirft, um der Politik im Erklärungsnotstand Argumente zu liefern.

Im Notstand befindet sich die Politik. Und sie hat sich dafür entschieden, mit Notstandsverordnungen darauf zu reagieren. Kaum ein Monat vergeht mehr, in dem nicht ein neuer Hungerstreik in einem der Abschiebegefängnisse beginnt, und so ist der polizeiärztliche Dienst gefordert, die Häftlinge gesünder zu schreiben als sie es in der Regel vermutlich sind. Weidlich nutzen die Berliner Ämter überdies die dramatischen Möglichkeiten des Asylbewerberleistungsgesetzes und streichen Flüchtlingen, die noch nicht in Haft sind, jedwede Unterstützung. Jetzt, da der Frühling anbricht und das Bundesinnenministerium Geduld und Augenmaß verliert, sind vor allem die heimatlosen Ex-Jugoslawen an der Reihe.

Kosovaren, Bosnier, Serben werden bald zu Zehntausenden vor der Alternative "Abschiebung oder Abschiebehaft" stehen, weil ihre Duldungen ablaufen und Deutschland auf "freiwillige Rückkehr" dringt. In Berlin läuft für 4000 Kosovaren und 11 000 Bosnier die Zeit ab, in ganz Deutschland müssen 200 000 Menschen aus den Regionen des zersplitterten Jugoslawien mit dem Druck der deutschen Behörden rechnen. Die Berliner Bezirksämter entziehen schon jetzt Aufenthaltspapiere, Geld, Versorgung und in Einzelfällen selbst das Dach über dem Kopf. "Geld- und obdachlos" würden die Betroffenen ausgesetzt, berichten alarmierte Menschenrechtsgruppen wie die Forschungsgesellschaft Flucht und Migration und die Antirassistische Initiative.

Formulare werden den Flüchtlingen vorgelegt, die wirken wie die Pistole auf der Brust. Wer als Betroffener nicht zurück kehren kann oder will, landet bei allfälligen Zwangsberatungen in Ankreuzkästchen von Formblättern, deren Botschaft zusammengefasst lautet: "Hau ab oder wir machen Dir das Leben zur Hölle." Und zwischen den Zeilen steht noch immer deutlich der Glaube, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, ein Volk, keine Bevölkerung.

Warum klammern sich Natalja Bazarja, Soja Schatz, Dana Wlasenko und Lyudmila Orlova an ein Land, das sie los werden will und das ihnen die Hoffnung auf ein besseres Leben verbietet? Warum verweigern sie seit 44, seit 47 Tagen jedwede Aufnahme von Nahrung? "Besser hier krank, als dort gesund", sagt Soja Schatz. Zwei Mal ist sie in den vergangenen Wochen zusammen gebrochen und lag halbe Stunden lang, von Krämpfen geschüttelt, verkrümmt auf dem Boden. Auf die Frage nach ihrem Lebenstraum antwortet sie: "Arbeiten und in Ruhe leben". Dann steht sie, ein fahler Schatten, vor dem rostroten Türstock, der den Übergang zum "Gewahrsamsbereich" markiert. Soja Schatz isst nicht mehr, seit 44 Tagen. Und seit vorgestern, seit Donnerstag, verweigert sie sich auch das Trinken. "Bis zum Tod" werde sie gehen, sagt sie.

 

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Copyright © Frankfurter Rundschau 2000
Dokument erstellt am 07.04.2000 um 20.45 Uhr
Erscheinungsdatum 08.04.2000

 

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