Potsdam - 38 Tage hatte er nichts gegessen, 15 Kilo
abgenommen. Im spärlich eingerichteten Aufenthaltsraum des Jesuiten
Flüchtlingsdienstes in Charlottenburg begegnet uns wider Erwarten
kein Geschwächter, Gebrochener. Sein Händedruck ist kraftvoll, sein
Lachen zuversichtlich. David Alekseenko hat einen
selbstzerstörerischen Kampf geführt, um seine Freiheit wieder zu
gewinnen. «Frei zu sein war mir immer das Wichtigste», sagt er und
lächelt zufrieden.
Im August 1999 kam der heute 22-Jährige von Russland über Polen
nach Deutschland. Die meiste Zeit verbrachte er in Abschiebehaft in
Berlin-Köpenick und - durch einen fatalen Irrtum - in
Eisenhüttenstadt. Aus Verzweiflung trat er in den Hungerstreik. Um
diesen zu «brechen», wurde er im September zweimal in die
geschlossene Abteilung der Psychiatrie in Frankfurt (O.)
eingewiesen. Seit wenigen Tagen ist er frei und wartet auf seine
Abschiebung.
Er zeigt uns ein amtliches Dokument, aus dem hervorgeht, dass er
sich bis 9. November 2000 in Deutschland aufhalten kann. Seine
Betreuer rechnen mit einer Verlängerung der Duldung. Doch irgendwann
- früher oder später - wird es zu seiner Abschiebung kommen. Andere
mit dieser völlig unklaren Perspektive wären verbittert. Der junge
Russe strahlt Zuversicht aus, obwohl der Verlauf seines Lebens dazu
bislang keinen Anlass gab.
Am 2. Februar 1978 wurde Alekseenko im tschetschenischen Grosny
geboren - auch das steht auf dem grünen amtlichen Papier. Seine
Eltern seien Alkoholiker gewesen, er habe sie niemals arbeiten
sehen, beginnt er seine Lebensgeschichte zu erzählen. «Wenn ich an
mein Zuhause denke, fallen mir nur Saufgelage und Schlägereien ein»,
sagt er in sachlichem Tonfall. Er hat einen Kindergarten besucht, in
der Grundschule Lesen und Schreiben gelernt. «Doch ab der vierten
Klasse hat es nicht mehr funktioniert. Meine Eltern hätten mir Hefte
kaufen müssen und haben es nicht getan.»
Der erst Zehnjährige kehrte Elternhaus und Schule den Rücken und
schloss sich einer Straßenbande an. «Wir sind in ganz Russland
umhergereist und klauten auf den Märkten. Die Ältesten haben für
Wohnung und Essen gesorgt», erinnert er sich. Im Alter von 16 Jahren
habe er angefangen, sein Leben in Frage zu stellen. Aus einem
inneren Antrieb heraus suchte er Kontakt zu den Kirchenältesten,
überall dort, wo er sich gerade aufhielt. «Mir wurde klar, dass ich
nur im Glauben einen Sinn für mein Leben finden werde», sagt der
22-Jährige, der um vieles reifer wirkt als Gleichaltrige. Auch sei
ihm bewusst geworden, dass er bei seinen Diebeszügen früher oder
später erwischt wird. «Gefangen zu sein ist das Schrecklichste.»
Hals über Kopf setzte er sich von seiner Jugendbande ab. Sein
Traum von einem «bescheidenen Leben» versuchte der 16-Jährige in
Moskau zu verwirklichen. Vier Jahre lang arbeitete er als
Hilfsarbeiter auf Baustellen. Mit dem ehrlich verdienten Geld, wie
er betont, reiste er in Klöster, um religiösen Halt zu finden.
Dann eskalierte der Tschetschenien-Konflikt erneut, viele seiner
Freunde wurden einberufen. «Vier Freunde sind gefallen. Ich hatte
Angst», erinnert sich David Alekseenko. Irgendwann wurden in Moskau
alle Wohnungen durchsucht und allen Kaukasiern das Bleiberecht
abgesprochen. «Wo sollte ich hin? Meine Eltern haben mich nicht
vermisst», sagt er mit verlorenem Blick. Einige Bekannte hätten ihm
geraten, nach Deutschland zu flüchten, um dort Asyl zu
beantragen.
Der junge Mann nahm einen Zug nach Polen. In einem polnischen
Kleintransporter - versteckt unter Taschen - ließ er sich nach
Görlitz schleusen. Drei Tage dauerte seine Reise von Moskau nach
Deutschland. Drei Tage höllischer Angst. Ohne Gepäck stieg er aus
dem Auto aus. Bei sich hatte er nur einen Zettel mit der Adresse
einer Kreuzberger Kirche. «In der versammeln sich alle Russen»,
hatte man ihm gesagt. Wie erwartet, wurde dem Flüchtling
geholfen.
Politisches Asyl habe er erst Wochen später beantragt, nachdem er
bei einer Polizeikontrolle ohne Personaldokumente erwischt worden
sei. Innerhalb von nur zwei Wochen sei sein Antrag abgelehnt worden,
sagt der Russe, der kein Deutsch spricht. Er kam in die
Abschiebehaftanstalt Köpenick. Einen Pass habe er nie besessen,
beteuert er bis heute. Da ohne Personaldokumente eine Abschiebung
nicht erfolgen kann, wartete er vier Monate in der Haftanstalt. Im
russischen Konsulat erfuhr er, dass in den Archiven in Grosny nicht
gearbeitet wird und seine Herkunft nicht belegt werden kann. Zwei
weitere Monate verbrachte er in Haft. Schließlich wurde ihm eine
Grenzübertrittsbescheinigung ausgestellt mit der Auflage, sich
regelmäßig bei der Ausländerbehörde zu melden. «In den ersten vier
Wochen hatte ich gar kein Geld. Dann bekam ich monatlich 20 Mark vom
Sozialamt », sagt er.
Um zu Geld zu kommen, arbeitete er illegal auf Baustellen - auch
in Potsdam. Er wusste zwar, dass er sich nur in Berlin und einem
30-Kilometer-Umkreis aufhalten darf. Doch da das ABC-Ticket der BVG
bis Potsdam gilt, dachte er, sich noch auf «erlaubtem Territorium»
zu befinden. Ein fataler Irrtum: An einer Bushaltestelle wurde er
von der Polizei kontrolliert. Erneut kam er vor einen Richter, der
die Einweisung in die Abschiebehaftanstalt Eisenhüttenstadt
veranlasste. Im Gerichtssaal erklärte er schriftlich, er werde in
den Hungerstreik treten: «Ich hatte keine andere Wahl, gegen meine
erneute Inhaftierung zu protestieren.»
Zwei Wochen lang verweigerte er die Nahrungsaufnahme, bis er in
Ohnmacht fiel. Bis zu dem Zeitpunkt habe sich kein Arzt um ihn
gekümmert. Die Ärzte im Eisenhüttenstädter Krankenhaus hätten
versucht, ihn zum Essen zu überreden, er blieb hartnäckig. Er kann
nur vermuten, wer seine Einweisung in die geschlossene Abteilung der
Psychiatrie veranlasst hat. Erklärt worden sei ihm nichts, klagt
Alekseenko. Seine Anwältin beantragte Akteneinsicht.
Als er die Patienten und die vergitterten Fenster sah, dämmerte
ihm, was geschehen ist. Ein Arzt in Frankfurt (O.) versprach: Wenn
er essen würde, werde er frei kommen. Sonst werde er künstlich
ernährt. Der Russe, der rund um die Uhr einen Polizisten zur Seite
hatte, beendete den Hungerstreik. Entgegen dem Versprechen wurde er
in Handschellen zurück in die Haftanstalt gebracht. Verzweifelt
begann er wieder, die Nahrungsaufnahme zu verweigern und wurde nach
einer Woche erneut in die Psychiatrie eingeliefert.
Diesmal empörte sich ein Arzt darüber: Er sei psychisch normal
und habe hier nichts zu suchen. Dass er schließlich aus der
Abschiebehaft freikam, habe er dem Charlottenburger Seelsorger
Norbert Frejek und der Antirassistischen Initiative zu verdanken.
Sie machten auf seinen Fall öffentlich aufmerksam, sagt der junge
Mann und lächelt dankbar.